Auf den Namen Tezer Kiral stieß ich im Jahr 2011, als ich eine Literaturreihe mit der Überschrift «Vibrationshintergrund» kuratierte. Zur Feier von fünfzig Jahren deutsch-türkischem Anwerbeabkommen sollten im Zuge des Theaterfestivals «Almancı – 50 Jahre Scheinehe» im Ballhaus Naunynstraße Lesungen stattfinden, die der Arbeitsmigration nach Deutschland gedachten. Ich wollte dafür deutschsprachig Schreibende zusammenbringen, die einen biografischen oder inhaltlichen Türkeibezug hatten und literarisch wie thematisch nach Autarkie strebten. Dafür durchforstete ich alte Verlagsprogramme und Listen von Literaturpreisen.

Beim Marburger Literaturpreis war der Name Tezer Kiral als Gewinnerin im Jahr 1982 gelistet, für einen Roman mit dem Titel: Die Suche nach den Spuren eines Selbstmordes. Es existierte aber kein veröffentlichter Roman mit diesem Titel, zumindest fand ich ihn nicht – nicht auf Deutsch und auch nicht auf Türkisch. War ich auf die Spur eines verlorengegangenen Romans der großen Schriftstellerin Tezer Özlü gestoßen? Oder war am Ende Tezer Kiral gar nicht Tezer Özlü? Aber wer war dann Tezer Kiral?

Ich rief bei der Stadt Marburg an, die mich an den Landkreis Marburg-Biedenkopf verwies (oder andersherum). Hier telefonierte ich zunächst mit einigen Beamten, die nicht verstanden, was ich wollte und mich an weitere Beamte verwiesen, die mich abermals weiterreichten. Bis ich schließlich bei einem älteren Herrn landete, der sagte: «Ja, ich erinnere mich an die, wie hieß sie noch gleich, an die Kiral, sehr eindrucksvoll, sehr talentiert.» Ich fragte, für welchen Text die Autorin den Preis erhalten hatte. Der Mann sagte, das sei alles schon so lange her, er wisse nicht mehr genau, aber es sei eindrucksvoll gewesen.

Ich verstand, dass mit dem Preis unveröffentlichte Manuskripte gewürdigt wurden, und fragte, ob sich diese dann nicht im Stadtarchiv befinden müssten? Das wusste der Mann nicht und verwies mich an die Stadt (oder den Landkreis Marburg-Biedenkopf). Dort sagte man mir, dass solche Dokumente nur für fünf Jahre archiviert werden würden. Ich fragte: Was meinen Sie mit «solche Dokumente»? So stand ich da mit leeren Händen nach all diesen Telefongesprächen. Ich muss nicht erwähnen, dass ich nach so vielen Jahren kaum noch eine Erinnerung habe an die genauen Inhalte der Telefonate oder an die Personen, mit denen ich sprach.

«Überall und jederzeit verbanne ich mich selbst»

War der Roman Tezer Özlüs – oder Tezer Kirals – irgendwo zwischen den Systemen verloren gegangen? In der Türkei uninteressant, weil nur ein fremdsprachiges Dokument, das irgendwo herumlag? In Deutschland lediglich ein weiteres unveröffentlichtes Manuskript einer unbekannten Autorin? Für mich war Tezer Özlü eine formal wie inhaltlich radikale türkische Schriftstellerin. Wenn ich an ihre Texte dachte, kam mir nicht Deutschland in den Sinn, ich dachte nicht an Erzählungen über das Leben in verschiedenen Ländern und Sprachen. Auch für die Rezeption in der Türkei war es irrelevant, dass ihr Leben sich zwischen mehreren Ländern und zwei Sprachen bewegte. Vielleicht wollte Tezer Özlü genauso gelesen werden.

Jedenfalls kam ich an den in Mittelhessen gewürdigten Roman Suche nach den Spuren eines Selbstmordes nicht ran. Der Roman von Tezer Özlü, der deutschen Autorin, nicht der berühmten türkischen, war nicht zugänglich. Als deutschsprachige Autorin nicht deutscher Herkunft hatte sie das Privileg eingebüßt, im literarischen Gedächtnis aufgehoben zu werden. Die in der Türkei kanonische Tezer Özlü war in Deutschland durch das archivarische Raster gefallen, ihr Manuskript womöglich vernichtet worden.

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Ich musste nach ihr suchen, wie man nach marginalisierten Geschichten sucht, die flüchtig bleiben und fragmentiert, abhängig von Zufällen. Ich fing also an, mit Menschen in meinem Umfeld zu sprechen, erzählte in den Bars der Off-Theater, wo ich damals viel Zeit verbrachte, von meiner Suche nach der Suche nach den Spuren eines Selbstmordes. Ich unterhielt mich auf den Terrassen Kreuzberger Cafés über Tezer Özlü, von der ich glaubte zu wissen, was ihre Fans, denen ich begegnete, nicht wussten, nämlich dass es sich hierbei um eine deutschsprachige Autorin handelte.

Endlich war es der Verleger und Autor Koray Yılmaz-Günay, der mir weiterhalf. Er sagte, Çiçek Bacık habe zu Tezer Özlü geforscht und vor Jahren einmal von einem unbekannten deutschsprachigen Manuskript erzählt. Es stimmte also: Das Manuskript war unveröffentlicht geblieben, niemand wusste so recht, wo es war, zumindest kannte ich die Kreise nicht, die solche Informationen hatten.

Indes hatte ich auch herausgefunden, dass Tezer Özlüs Die kalten Nächte der Kindheit auf Deutsch unter dem Namen Tezer Kiral veröffentlicht worden war. Ich kontaktierte Çiçek, die mir erzählte, dass sie das Manuskript für ihre Masterarbeit gelesen hatte. Unter der Bedingung, dass ich es nicht vervielfache oder weiterreiche, erstellte sie für mich eine weitere Kopie des Typoskripts. Ich machte transparent, dass ich eine Lesung mit Schauspielerinnen plante, und versprach, dass die Kopie bei mir in guten Händen sei.

Ich hatte die deutschsprachige Autorin im Gedächtnis eines Bekannten gefunden, und ihr Typoskript lag, wie es bei einer große Leserin Kafkas nicht anders hätte sein können, in einem unsichtbaren Museum, das in der Dachkammer einer Professorin nur solange existierte, wie sich jemand daran erinnerte. Jetzt wusste ich auch, dass es sich bei der Suche nach den Spuren eines Selbstmordes um die Vorlage zu Yaşamın ucuna yolculuk («Reise an den Rand des Lebens») handelt. Tezer Özlü hatte ihren zunächst auf Deutsch verfassten Roman auf Türkisch neu geschrieben und in der Türkei unter anderem Titel veröffentlicht.