Suhrkamp Okt. 2025 23 € 112 S.
Suhrkamp Sept. 2024 23 € 208 S.
Ada Yayinları März 1990 76 S.
Im Frühjahr 2025 erhalte ich eine E-Mail von Galili Shahar: «Auf dem Weg nach Bad Homburg, im Zugwagen sitzend … also schon nicht mehr in Berlin, besser gesagt – noch nicht in Berlin. Ich komme zurück mid April, zum Beginn des Semesters, dann pendeln. Ich trage mit mir ein Buch Özlüs, das vor Kurzem in seiner deutschen Fassung erschien. Hast du das Buch in der Hand?» Ich schaue in mein Bücherregal, finde ein Buch von ihr und antworte am nächsten Tag: «Ich habe deine Nachricht in Berlin gelesen und tippe meine Antwort in Essen. Das Buch habe ich tatsächlich in der Hand – ironically, in English.»
Dass es sich um zwei verschiedene Bücher von Tezer Özlü handelt, bemerken Galili und ich erst später, beim Pessach-Essen im April. An der längsten Tafel Berlins sitzend, in Galilis Wohnung am Lausitzer Platz, eines der beiden Bücher in meiner Tasche, der Seder-Teller vor uns, werden verschiedene Passagen aus der Haggada gelesen. In einer Weltlage, die den Wert der Menschenleben so radikal verschieden bemisst, wagt kaum jemand anders von Freiheit zu sprechen als dialektisch: «no one of us can be free until everybody is free».
Am Abend, ein paar Weingläser später, zwischen Meerrettich und Matze, sitzt Galili neben mir und zeigt mir sein Buch: Tezer Özlü, Suche nach den Spuren eines Selbstmordes. Und ich hole meines hervor: Tezer Özlü, Cold Nights of Childhood. Wir sprechen über unsere Lektüren, die sich sehr ähneln, aber wir haben zwei verschiedene Romane von ihr gelesen. Das ändert nichts an unserer Begeisterung für das Œuvre, es bestärkt sie noch. Galili ist überzeugt: «Das ist Weltliteratur.»
Vor den Gesetzen
Suche nach den Spuren eines Selbstmordes – «Galilis» Buch – erschien 1984 in der Türkei unter dem Titel Yaşamın Ucuna Yolculuk und erst vierzig Jahre später, vergangenes Jahr also, bei Suhrkamp in seiner deutschen Originalfassung. Zur Geschichte der Manuskripte schreibt Deniz Utlu ausführlich in einem weiteren Text bei Berlin Review. Er ist auch der Übersetzer der deutschen Fassung von Cold Nights of Childhood – «meinem» Buch (das türkische Original von 1980 lautet Çocukluğun Soğuk Geceleri). Dieses ist soeben unter dem Titel Die kalten Nächte der Kindheit bei Suhrkamp erschienen.
Zwei Romane also, deren Fertigstellung etwa vier Jahre trennt, einer auf Türkisch geschrieben, der andere auf Deutsch. In ihrer Anlage sind sie komplementär: Die kalten Nächte der Kindheit von 1980 blickt zurück, in Form eines inneren Monologs über Kindheit, Krankheit, Sprache und Überleben, während Suche nach den Spuren eines Selbstmordes diese Bewegung nach außen verlagert, auf eine Reise durch Europa, «zu den Gräbern meiner Schriftsteller», die zugleich eine Bewegung ins Innere ist. In beiden Werken wird die Schwelle zwischen Leben und Tod zum Gegenstand. Zusammen gelesen antwortet die eine Lektüre auf die Aporien der anderen.