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KRANK Berlin (serie, Apple TV)Viktor Jakovleski, Alex Schaad, Fabian Möhrke
div. Min.  1. 3. 2025
Heldin (film, Berlinale)Petra Volpe
92 Min.  12. 2. 2025
Palliativstation (film, Berlinale)Philipp Döring
245 Min.  12. 2. 2025

Während ich die Serie KRANK Berlin anschaue, muss ich immer wieder auf Pause drücken. Die Krankenwagen, die mit heulenden Sirenen die Hermannstraße runterfahren, stören meinen Fernsehabend. Erst nach eine paar Unterbrechung wird mir klar: Der Lärm kommt gar nicht von draußen, sondern aus meinem Laptop. Berlin hält den bundesweiten Rekord an Notfalleinsätzen, auch weil die Berliner ärmer, kränker und einsamer sind als der Durchschnitt der deutschen Bevölkerung. Einsam, oder jedenfalls single, ist auch einer der Protagonisten dieses Krankenhausdramas, der in der ersten Szene der ersten Folge ganz in seinem Element zu sein scheint: im Club, der Kirche des Berliner Mimikry.

Noch die abgebrühtesten Storyteller schaffen es anscheinend nicht, diese Stadt ohne ihre Klischees zu erzählen. Wir kennen die Bilder in- und auswendig: tanzende Silhouetten, Stroboskoplicht, Minimal Techno – natürlich bricht der Hauptdarsteller am Ende zugedröhnt zusammen. Zum Glück ist er aber vom Fach und kann sich vor Beginn der anschließenden Frühschicht einen Medikamentencocktail verabreichen, der ihn auf feste Beine stellt. Good for you, Dr. Ben. Aber zu welchem filmischen Effekt?

Es wäre leicht, die Serie für diesen groben Einstieg zu verreißen. Einen gewissen Realismus muss ich ihr aber zugestehen, wenn auch nur im tragikomischen Bereich. KRANK spielt in einem fiktiven und offenbar dem berüchtigten Vivantes in Neukölln nachempfundenen Krankenhaus. Als ich dort neulich, glücklicherweise aufgrund eines Fehlalarms, in der Kindernotaufnahme landete, trug der diensthabende Kinderarzt statt Kittel ein Denim-on-Denim-Ensemble von Comme des Garçons und war mit dem Kopf schon auf der anschließenden Party (es war Spätschicht). Wie sonst sollte ich mir die sadistische Distanz und den Sarkasmus erklären, mit der er meinen nicht mal einjährigen Sohn untersuchte?

James Butler schreibt, Care sei unter Politikern das unbeliebteste Thema von allen. Tatsächlich verweist es auf zwei der unangenehmsten anthropologischen Konstanten: wir alle werden sterben, und wir alle müssen zahlen. Nur zwei Arten von Menschen interessieren sich wirklich für Care: die Pflegebedürftigen und das Pflegepersonal. Was hätte sich mit der Pandemie nicht alles ändern können. In Ländern wie Deutschland oder Italien steigen, wenn auch aus jeweils unterschiedlichen Gründen, die Gesundheitskosten, während die Qualität der Pflege weiter sinkt.

Wie frustrierend all das ist, erkennt man an einer Sprache, die Probleme anonymisiert und vereinfacht, während sie tieferliegende politische, gesellschaftliche und psychologische Zusammenhänge einfach unterschlägt. In der Kunst mag Care als Thema aktuell präsenter sein (aus meiner privaten Mediathek fallen mir spontan Almodóvars The Room Next Door, Eva Trobischs Ivo, Lynn Tillmans Memoir Mothercare oder die Arbeiten der bildenden Künstlerin Carolyn Lazard ein), im öffentlichen Diskurs wird es aber ohne jede Nuance abgehandelt. Das Resultat ist paternalistischer Aktivismus («die armen Pflegekräfte») oder platter Antikapitalismus («Gesundheit ist nicht käuflich»). All die gewissenhaften Reden über die Care-Arbeit haben in den westlichen Ländern zu keiner Linderung der Misere geführt. Wird sie jetzt aber wenigstens genauer dargestellt?

Von Buffy ins Spital

Die Fernsehserie KRANK Berlin, der Film Heldin und der Dokumentarfilm Palliativstation – beide letztgenannte liefen auf der Berlinale 2025 – sind medical dramas für eine Zeit, in der sich die Tragödie der Krankheit nicht mehr nur im Organismus des Patienten, sondern auch mit der Gesellschaft abspielt, die ihm eigentlich beistehen sollte. Die Kulissen sind antikollektivistisch, die Geschichten und ihre Moral wollen uns aber ermutigen oder zumindest provozieren: Mit einer Mischung aus genretypischem Voyeurismus und verdinglichter Empathie schlagen diese drei Werke, vielleicht auch unwillentlich, aus der politischen Relevanz ihres Themas Kapital.

Die Konzerte mit Töpfen und Schöpflöffeln, die im Höhepunkt der Pandemie in den Städten zum Dank an das Gesundheitspersonal abgehalten wurden, hatten dieselbe naiv-untersteuerte Qualität wie Sitzkreise oder Friedensfahnen, die man noch Anfang der 2000er als Kritik an der rechten Regierung auf den Straßen und Plätzen Italiens beobachten konnte. Auch wenn es zu beiden Zeitpunkten der Ausdruck eines Aktionismus war, der mehr vom Affekt als von wirklicher Analyse getragen ist, können die damals Demonstrierenden sich wenigstens damit entschuldigen, dass sie noch vor den vernichtenden Folgen des Neoliberalismus standen und nicht wie wir mittendrin. Anfang der 2000er wurden in Deutschland und anderen Ländern Berechnungssysteme wie «diagnosebezogene Gruppen» (diagnosis related group) in den Krankenhäusern eingeführt und das Gesundheitswesen mitsamt seiner menschlichen und anderweitigen Ressourcen auf ökonomische Variablen reduziert. Falls jemand fragen wollte: Die vom soeben ausgeschiedenen SPD-Gesundheitsminister Lauterbauch eingeleiteten Reformen schaffen dieses System nicht ab, sie verfeinern es nur auf eine Weise, die die großen, ressourcenstarken Krankenhäuser gegenüber kleineren Kliniken begünstigt.

In diesen Nuller Jahren, in denen Lauterbach der damaligen SPD-Gesundheitsministerin als Berater diente, verdrängten gesundheitsbezogene TV-Produkte wie Emergency Room, Grey’s Anatomy, Dr. House oder Scrubs die Soft-Horror-Formate wie X-Files oder Buffy – Im Bann der Dämonen aus dem Abendprogramm. Das Paranormale wurde durch das Krankenhaus ersetzt. (Eine Serie, die beides vereinte, gab es natürlich auch: The Kingdom von Lars von Trier). Auch wenn sie das Idealbild des gottgleichen Arztes auf je eigene Weise in Frage stellten – man denke an die Gespinste des Dr. House oder an den subalternen Status der PJ-Ärzt:innen in Scrubs –, basierten diese Serien doch immer auf dem mit den Zuschauer:innen geteilten Einverständnis, dass das medizinische Personal alles in seiner Macht Stehende tun werde, um die Kranken zu heilen. Wenn dieser Heilung etwas im Wege stand, dann waren es die Patient:innen selbst, ihre Krankheit.

Durch die der Notaufnahme im Berliner KRANK-Klinikum weht eine andere Luft: Sie ist postpandemisch verseucht, was das Gefühl von Notstand auf die Gesunden und außerhalb des Pflegesystems Stehenden ausweitet, und sie ist eine intime Atemluft, die uns doch alle, wie Jamieson Webster festhält, verbindet – ganz ungefragt und barrierefrei, ohne jedes Verfahren und jede Hierarchie. Natürlich wissen das auch unser Dr. Ben (Slavko Popadic) und unsere Dr. Emina (Safak Sengül), die Pflegekräfte und PJ-ler, die Rettungssanitäter:innen – und die neue Ärztin Dr. Suzanna Parker (Haley Louise Jones), die aus der geriatrischen Abteilung eines Klinikums in München (!) angeheuert wurde, um die Lage wieder unter Kontrolle zu bringen, weiß es natürlich auch.

Tatsächlich versucht die Klinikleitung mit diesem Neuzugang ihr Gesicht zu wahren: Im Chaos des ersten Mai ist eine Patientin gestorben, doch niemand weiß, wer die Verantwortung trägt. Im KRANK geht so einiges: Medikamentenklau für den Eigenbedarf, Wettspiele auf die Lebensdauer der Patienten, Sex in der Besenkammer – aber die Schichten verdoppeln und verdreifachen sich, die Überstunden nehmen kein Ende, die Geräte fallen aus, der IT-Support – der Care des Care – will gefaxte Tickets. Was dem hartgesottenen postmodernen Detektiv im Fernsehen passierte, geschieht hier dem medizinischen Personal: Es gerät in die Krise. Das Personal des KRANK ist überfordert, einsam und verwirrt; geschwächt durch ein System, für das es unentbehrlich ist; machtlos gegenüber echten Notfällen. Doch im Gegensatz zu Robert Altmans Philip Marlowe in The Long Goodbye gibt es hier keine Krankenpfleger, die am Schichtende ihr Akkordeon rausholen, um einen sanften Schwank zu spielen.

Die Macht der Prekarität

Ein The Lancet-Paper vom April dieses Jahres kritisiert das deutsche Gesundheitswesen unter anderem dafür, dass es kein positives Selbstverständnis entwickelt hat und seit der Nachkriegszeit den Zustand der Gesundheit mit der Abwesenheit von Krankheit gleichsetzt. Passenderweise ist die erste Kranke, der wir in KRANK Berlin begegnen, geisteskrank oder wird dafür gehalten, weil sie trotz hartnäckiger Besuche in der Notaufnahme keine nachweisbaren Symptome zeigt. Doch welcher Hilfeschrei hat Vorrang, der des eingebildeten Kranken oder der des lügenden Arztes?

Als ein solcher Lügendoktor in der Serie auftaucht, muss ich an eine Freundin denken, die nach einem schweren Unfall und einer unzureichenden Behandlung in einem Berliner Krankenhaus bleibende orthopädische und neurologische Schäden davontrug, die sie zu einem langen, komplizierten Reha-Aufenthalt zwangen. Als wir uns Monate später endlich wiedersahen, erzählte sie mir, wie sie zwanghaft alte Folgen von Emergency Room anschaute. «Ich brauche eine Bestätigung », sagte sie, «dass die Dinge, irgendwo, irgendwann, noch funktionieren.»

Ihre Wut richtet sich auf spezifische Personen, die sie namentlich kennt und von denen sie unwürdig behandelt wurde. Doch ihre Verzweiflung ist strukturell und hat keine klaren Adressaten: In ihrer Verletzlichkeit als Patientin wurde sie von einem System enttäuscht, dessen Risse sich durch alle Ebenen ziehen und in dem die Verantwortung so aufgeteilt wird, dass sie vage bleibt, verteilt auf Hände, die sich ausstrecken oder zurückziehen, und noch von jenen delegiert werden können, die nach ihnen verlangen.

Von einer Pandemie zur nächsten

«Wir haben einen Pflegenotstand. Ich bin Teil einer Gewerkschaft. Ich fürchte um mein Leben», antwortet Belize, «Ex-Drag-Queen und zugelassene Krankenschwester», dem schurkischen Anwalt Roy Cohn, als dieser droht, sie zu verklagen. Cohn, der im Krankenhaus liegt und an Aids erkrankt ist, hat es geschafft, das exklusivste Medikament auf dem Markt zu beschaffen, und Belize, dessen Community von dem Virus heimgesucht wird, verlangt von ihm einige Dosen für einen Freund, der sich in einem ebenso schweren Zustand befindet. Wir befinden uns in Angels in America, Tony Kushners großartigem Theaterstück von 1992 über die andere Pandemie, das von der Notwendigkeit eines egalitären Systems zeugt, in dem Prävention, Gesundheitskompetenz und wissenschaftliche Forschung allen zugutekommen.

Belizes Worte, besonders die bittere Ironie ihres letzten Satzes, bringen das ansteckende Spiel der Umkehrungen und das fragile Gleichgewicht zwischen Wohlbefinden und Unwohlsein auf den Punkt, das sich innerhalb eines dysfunktionalen Gesundheitssystems ganz von allein einstellt. Sie lassen mich an eine Geschichte denken, die sich dreißig Jahre später tatsächlich abspielte, als 2021 das Pflegepersonal der Charité in Streik trat, um bessere Arbeitsbedingungen zu erkämpfen.

Bezeichnend für solche Protestformen ist, dass das Gesundheitspersonal seinen Arbeitsplatz natürlich nicht vollständig verlassen kann, ohne andere in Gefahr zu bringen. Der Streik entwickelt sich deshalb nicht zu einer generellen Arbeitsniederlegung. Stattdessen beschloss die Belegschaft, genau in jener Besetzung weiterzuarbeiten, die der Minimalbesetzung der vergangenen Wochen entsprach. Was soll man auch noch machen, wenn der Ernstfall längst eingetreten ist? Man hat dann nichts mehr zu verlieren. Es ist der Moment, in dem, wie bei Belize, die eigenen Prekarität zum Machthebel wird.

Heldin mit Stoppuhr

Das Schlimmste zu verhindern ist auch die Aufgabe von Floria (Leonie Benesch), der Krankenpflegerin im Film Heldin der Schweizer Regisseurin Petra Volpe, der dieses Jahr auf der Berlinale vorgestellt wurde und seitdem in den Kinos angelaufen ist. Floria ist mit unbestreitbarem Mut und Widerstandskraft ausgestattet, aber sie ist nicht unfehlbar. Sie verkörpert die archetypischen Qualitäten einer Krankenschwester: «Ein übernatürliches Wesen», schreibt Gillian Rose so klarsichtig wie aufgewühlt in Love’s Work, «sie macht einen unendlich guten Job, und sie macht ihn, indem sie sowohl ihre Seele als auch ihre Fähigkeiten hineinsteckt. Auch sie hat Qualen in Heilung umgewandelt; aber sie hat sich nicht von ihrer Position verderben lassen, von der Illusion, dass sie diejenige ist, die das Schicksal bestimmt.» Kurz gesagt sie ist nicht der Hybris des Arztes verfallen: obwohl jeder, der mit echten Krankenschwestern zu tun hatte, weiß, dass sie es immer eilig haben und oft mürrisch sind – sie haben eben keine Zeit zu verlieren.

Floria arbeitet in der chirurgischen Abteilung eines Schweizer Krankenhauses und muss sich 26 stationäre Patienten mit einer anderen Kollegin teilen, weil die dritte krank ist und die Aushilfsschwester nicht gerufen wurde. Late Shift, der internationale Titel des Films, spielt auf die eigentliche Hauptfigur an. Während der Spannungsbogen im klassischen medical drama vom Krankheitsverlauf des Patienten abhängt, wird hier die Spannung der Erzählung durch die Knappheit der Zeit und der Ressourcen bestimmt, vor allem der menschlichen. Wird sie gerettet werden?

Dieselbe Frage, aber andere Akteur:innen – und die Gewissheit, dass eine negative Antwort heute viel gefährlicher ist als vor dreißig Jahren. Florias Meisterleistung – in der Vielfalt ihrer Fälle, in der Monotonie und Raffinesse ihrer Aufgaben – gipfelt im Einzelzimmer des Privatpatienten, einem unausstehlichen, relativ jungen Geschäftsmann, der gerade über die Unheilbarkeit seiner Krebserkrankung informiert wurde. Als Floria, die in ihrem Arbeitsablauf ständig durch Umwege und unvorhergesehene Ereignisse unterbrochen wird, ihm zu spät eine Tasse Tee bringt, weist er sie brutal zurecht, indem er ihre Leistung mit seiner eigenen Luxusuhr vergleicht. Floria explodiert und wirft in einer Geste der Wut die Uhr aus dem Fenster.

Spätere Ereignisse drängen Heldin in den Bereich der Fiktion, verringern aber nicht die politische Tragweite der Szene. Die Spezialfähigkeit des Pflegers ist es, zu verschiedenen Zeiten zu arbeiten, da jeder, der der Pflege bedarf, seine eigene Zeit hat. Obwohl, wie James Butler anhand von The Care Crisis von Emma Dowling und Labour of Love von Madeleine Bunting andeutet, «ihre Aufgaben repetitiv sind, ungebunden an ein Produkt und, sehr oft, an ein Ziel», ist Pflege ein Beruf, der als konträr zu vielen der Eigenschaften des modernen Kapitalismus wahrgenommmen wird: «Innovation, Bequemlichkeit, Beschleunigung».

Indem sie die Zeit eliminiert, kann sich Floria für einige Augenblicke von dem Parameter befreien, der ihre Arbeit so entwertet und letztlich unmöglich macht. Diese von allen Arbeitenden geteilte Fantasie wird zu einer zutiefst subversiven Geste, wenn die Person, die sie ausführt, eine unentbehrliche Arbeitskraft ist, von der – im Wortsinn – die Zeit abhängig sein wird, die uns einmal allen noch bleibt.

Siehst du den Mond dort stehen

«Wie ist die Welt so stille / Und in der Dämm’rung Hülle / So traulich und so hold / Als eine stille Kammer / Wo ihr des Tages Jammer / Verschlafen und vergessen sollt», singt Floria einer verwirrten älteren Patientin vor, die sich beruhigt, als sie das Wiegenlied erkennt und mitzusummen beginnt. Not macht erfinderisch: für Menschen in der Kreativindustrie mag das manchmal sogar förderlich sein, in der Pflege sollte es gar nicht erst so weit kommen. Die Fähigkeit, Trost zu spenden, ist unter den Menschen ungleich verteilt – und es ist eine der ersten, die beim Arbeiten unter Stress versagt.

Auf der Palliativstation des Berliner Franziskus-Krankenhauses, das ebenfalls unter den für solche Einrichtungen typischen Mängel leidet, nimmt der Notstand eine andere Form an: Hier geht es nicht mehr um die Verlängerung, sondern um die Verbesserung des Lebens der Patient:innen, deren Ende bevorsteht. Genauso wie man hier mehr Zeit für die Pflegebedürftigen hat, nimmt Philipp Dörings Dokumentarfilm Palliativstation sich die Zeit, die es braucht. In über vier Stunden zeigt er die Palliativmedizin in all ihrer intimen Komplexität und stellt sich mit seinem direkten, genau beobachtenden Blick ganz in die Tradition von Frederick Wiseman, dessen Film Near Death von 1989 eine wichtige Referenz zu sein scheint.

Obgleich ganzheitliche und interdisziplinäre Ansätze bereits ein zentraler Bestandteil der Palliativmedizin sind, besitzt Oberarzt Dr. Sebastian Pfrang wirklich die Gabe, Linderung zu bringen, und zwar dort, wo medizinische Expertise ungenügend ist. Schon die Frage «Was kann ich für Sie tun?», die er täglich Menschen stellt, die durch Krankheit oder zerstörerische medizinische Eingriffe ihren freien Willen verloren haben, verdeutlicht die Beziehung zwischen Pflegeperson und Pflegebedürftigem auf eine beispiellose und regenerative Weise. Sei es, dass er eine MRT-Untersuchung intern durchführt, anstatt eine verängstigte Patientin eigens dafür zu verlegen, oder dass er den Schluckauf einer anderen, genesenden Patientin, die an Übelkeit und einem Luftröhrenschnitt leidet, durch eine einfache Massage zum Verschwinden bringt – Dr. Pfrang greift in das ein, was das kleinere Übel zu sein scheint, und lindert so wirkungsvoll den Schmerz.

In ihrem unerschöpflichen Buch Die Unsterblichen schreibt Anne Boyer:

«Ich wollte ohne jede Philosophie über Schmerzen schreiben. Ich wollte eine Erziehung in Schmerzen beschreiben und den politischen Einsatz einer solchen Erziehung. Aber in der Literatur schließen Schmerzen Literatur zumeist aus. Und in den gegenwärtigen politischen Szenarien sind Schmerzen oft nur das, was uns dazu bewegt, ihr Ende zu verlangen.

Richtig/Falsch:

  1. In der Philosophie ist Schmerz eine Feder, die ihrem Vogel ausgerupft wird.
  2. In der Literatur ist Schmerz ein Register, das von seinem Buch getrennt steht.
  3. Im Film ist Schmerz ein Baum, aber nie dessen Axt.»

Das Leiden, dessen körperliche Manifestation die niedrigste ist, weil sie zur Isolation verdammt, ist nicht sagbar, es ist nicht darstellbar. In bewegten Bildern kann man die Umrisse des Schmerzes zeigen, sein Simulakrum, nicht aber seine Verwirklichung oder Bedeutung. Diese Einschränkung wird durch den Blick der Betrachtenden kompensiert, die, angeregt durch die magische Aura des Kunstwerks, die Distanz kraft der eigenen Vorstellung überwinden.

Als Betrachterin kann ich also nur spekulieren. Aber ich denke, ich komme der Wahrheit schon recht nahe, wenn ich eine Szene aus Palliativstation als Zeugnis dafür interpretiere, dass das Behandeln von Schmerz, wenn man sie dialektisch einsetzt, auch eine Form des Erzählens von Schmerz und damit seine Linderung ist. Die Szene zeigt einen Austausch zwischen Patient und Arzt, einen Dialog, der die Abstraktion, die mit dem Tod einhergeht, und auch die damit verbundene Panik einfängt und zugleich freisetzt; eine balancierende Erklärung zwischen der unvermeidlich vereinsamenden Verinnerlichung der Perspektive derjenigen, die leiden, und dem Ekel und der Komik all dessen, was diese Perspektive notwendigerweise ausschließen muss. Es ist eine Interaktion, die trotz allem die kontinuierliche und freudige Präsenz der Welt da draußen bekräftigt und mit ihr koexistiert: «Was mache ich mit der Zeit?», antwortet Herr Dickhoff, der an zwei Beatmungsgeräte angeschlossen ist, auf die routinierte Frage von Dr. Pfrang. «Welche Zeit?» «Die Zeit, die so langsam ist, auf einmal. Das kenne ich so gar nicht. Sie rast an mir vorbei (…) und jetzt, plötzlich…» «Nichts bewegt sich.» «Nichts.»

Zwischendurch erzählt Herr Dickhoff von seiner Orientierungslosigkeit und äußert schließlich den Wunsch, all das möge so schnell wie möglich zu Ende gehen. Als Dr. Pfrang, der bei aller Empathie und Aufmerksamkeit doch auch ein mitten im Leben stehender Mann ist, ein Arzt zumal, ihm etwas Schnippisches antwortet, fragt der Patient zurück, rhetorisch und mit dem knappen Humor, den seine Situation noch erlaubt: «Kann da überhaupt etwas Vernünftiges rauskommen, wenn ein Arzt zu reden beginnt?» Sie lachen und sind jetzt einfach zwei Menschen, die sich unterhalten. «Es geht weiter», sagt der Arzt und streichelt dem Herrn respektvoll über den Rücken.

Da ist er, der Druck der Zeit, der von einer menschlichen Berührung nur flüchtig unterbrochen werden kann: wie eine vergängliche, aber umso notwendigere Erleichterung.

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